Aufsteiger fordern die Meister
17.06.2009
Rheingau versus Rheinhessen, Newcomer versus Ikonen - noch vor wenigen Jahren hatte dieser Vergleich nicht die messerscharfe Spannung wie heute. Unsere Expertenjury mit Stuart Pigott und Studenten von der FH Geisenheim stellte 38 trockene Spitzenrieslinge aus 2007 links und rechts vom Rhein auf den Prüfstand. Ein Fazit von Manfred Lüer.
Dieses Weingut hatte noch vor Jahren kaum jemand auf der Rechnung. Geschweige denn den Weinberg. Sein Name stand gar für äußerste Missachtung und Geringschätzung einer einst großen Lage. Bereits Johann Philipp Bronner schwärmte 1834 von den prächtigen Gewannen auf einem mächtigen Quarzitriegel, der sich vom Taunus in Richtung Hunsrück erstreckt. Bronner schätzte insbesondere die kargen, südwestlich ausgerichteten, windgeschützten Terrassen mit rötlichem Tonschiefer, die jedoch rund 150 Jahre später unter Büschen und Hecken verschwunden waren.
So erging es dem einst so berühmten Binger Scharlachberg im nordwestlichen Rheinhessen nicht anders als vielen anderen einstigen Spitzenlagen im bei Bingen beginnenden Mittelrheintal. Pikanterweise schweift der Blick von der nördlichen Scharlachberg-Seite auf den mächtigen Rüdesheimer Berg. Fast scheint es so, als würde etwas von der lustigen Zechlaune aus der Rüdesheimer Drosselgasse über den Rheinstrom herüberschwappen. Aber eben nur fast. Tatsächlich bietet sich von Teilen des Scharlachbergs ein imposanter Blick in die Weite des rheinhessischen Rebenmeers, und etwa an der St. Rochuskapelle oder am Friedhof der Hildegard-Schwestern neben dem Oblatenkloster beruhigen sich die Gedanken und öffnen sich am Schnittpunkt der Anbaugebiete Nahe, Rheinhessen, Rheingau und Mittelrhein.
Noch mehr Weitblick aber schafft ein Turm wie der von Carolin und Erik Riffel vom Binger Weingut Riffel. 1990 stieg Erik Riffel in den elterlichen Gemischtbetrieb ein und forcierte vehement den Qualitätsweinbau. Er glaubte von Beginn an fest an das Potenzial des Binger Scharlachbergs mit seinen Anlagerungen von Verwehungen wie Löss aus Zentralasien und den Meeresablagerungen. Als architektonisches Zeichen der Entschlossenheit und der Wertschätzung für das einst so klingende Scharlachberg-Terroir baute das Paar einen Turm, der Ideengeber für einen Ausnahme-Riesling war, der in der VivArt-Probe selbst renommierteste Rheingauer Weingüter und die neuen Granden aus Rheinhessen souverän - und auch etwas überraschend - hinter sich ließ: der trockene Riesling "Turm" 2007.
Der spontan vergorene Wein selbst wird laut Carolin Riffel in der Lage Scharlachberg in einer der ältesten Rieslinganlagen von Riffel produziert: "Die Erträge dort sind eigentlich sowieso schon niedrig. Trotzdem teilen wir kurz vor Traubenschluss die Trauben, reduzieren so den Ertrag und erreichen mehr innere Dichte und Komplexität." Das Ergebnis ist ein für Rheinhessen ungewöhnlich rassiger, schlanker, feingliedriger Wein, der trotz der enormen Konzentration sehr mineralisch daherkommt und feine Anklänge an tropische Ananas zeigt. Hier kommt die Eleganz des Quarzits saftig und balanciert auf den Punkt. Bronner hätte an dieser Neuinterpretation der von ihm einst so hoch gerühmten Lage seine Freude gehabt!
Eine ganz andere, nicht minder spannende Geschichte erzählen die beiden anderen Weine auf dem Siegertreppchen: Erbacher Marcobrunn von Schloss Schönborn aus Hattenheim und Kiedricher Gräfenberg vom Weingut Robert Weil aus Kiedrich. Während Weil aktuell mit brillanten Bergweinen von kristalliner Frische auftrumpft und der Gräfenberg bei aller Power mit Feinheit und filigranem Säurespiel punktet, hat Gutsverwalter Peter Barth auf Schloss Schönborn im Jahrgang 2007 einen Marcobrunn gekeltert, der das Zeug zum Klassiker hat: "Orangenduft - cremig und elegant, feine Säure, nachhaltig", schrieb Verkoster Stuart Pigott, ein Riesling- Kenner par excellence und Experte von feinsten Gaumengnaden, über den Marcobrunn. Der Wiesbadener Gastronom Bernhard Weber lobte die "dichte Struktur" und den Duft von "weißer Schokolade", während Geisenheim-Student Johannes Sinß notierte: "volle, gradlinige Struktur, passende Säure, Mango, Banane". Ihm gefiel auch der Gräfenberg außerordentlich: "feine Frucht, Mineralik".
Unter dem Strich hat unsere Probe also gezeigt, dass die Zukunft des Rheinweins in den Händen der Aufsteiger und der etablierten Güter gleichermaßen liegt. Ein "falsches" oder "richtiges" Ufer gibt es nicht, Klassiker und Aufsteiger liegen gleichauf. Und das ist für die jungen rheinhessischen Winzer, die zahlreiche, fast vergessene Spitzenlagen rekultivieren, ein Bombenerfolg! Als Rückkopplungseffekt wurden einstige Flaggschiffe im Rheingau zunehmend unter Druck gesetzt, die ihrerseits nun mit immer beeindruckenderen Weinen kontern. Kein Zweifel, die Renaissance des Rheingaus ist Thema der Stunde.
Heutzutage muss man also die Klassiker wie auch die Aufsteiger fest auf der Rechnung haben - statt den einen gegen den anderen auszuspielen. Der moderne Rheinwein ist zweifellos die Summe von Rheinhessen und Rheingau - eine sich gegenseitig befruchtende Synthese. "Es hat sich durch unsere Probe bestätigt", sagt Rieslingkenner Stuart Pigott, "dass sich die Situation in Rheinhessen grundlegend zum Positiven gewandelt hat. Dieser dynamische und innovative Impuls ist quasi über den Rhein in den alten Rheingau gewandert." So gesehen, ist es ein Erfolg für beide Seiten - Giganten und Geheimtipps gleichauf!
VivArt Wiesbaden & Rheingau Sommerausgabe 2009
Ein Bericht von Manfred Lüer vom 17.06.2009.
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