Nachbarn helfen sich

05.09.2015

Echo vorlesen, einkaufen gehen und zum Arzt fahren

Nachbarschaftshilfeverein bringt Menschen allen Alters zusammen

Geisenheim. (sf) Jeden Donnerstag freut sich die 80jährige Geisenheimerin Lottchen Grebert auf das neue Rheingau-Echo und das, obwohl sie vollkommen blind ist.

Aber jeden Donnerstagnachmittag kommt ihre Nachbarin Maria Bierschenk oder eine andere Dame des Nachbarschaftshilfevereins für zwei Stunden, um ihr aus dem Rheingau-Echo vorzulesen. "Das ist für mich ein ganz besonderer Höhepunkt in der Woche, auf den ich mich sehr freue. Maria Bierschenk und Hildegard Biernat, die mit Patricia Gaberle, Helga Szarka, Maria Bischoff, Ursula Steiner zu den insgesamt sechs Vorlese-Damen gehören, sind ihrerseits so angetan von Lottchen Grebert, dass dieser ehrenamtliche Dienst sich auch für sie zu einer reinen Freude entwickelt hat. "Ich habe unheimlich viel gelernt von Lottchen und ihrer trotz Blindheit ansteckenden Lebensfreude. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie gut sie sich so ganz allein in ihrem Haushalt zurechtfindet", sagt Maria Bierschenk. Sogar bügeln und Fenster putzen macht die vor 15 Jahren komplett erblinde Frau ganz alleine. Die Familie sei zwar vor Ort und auch bei Anfrage immer hilfsbereit. Trotzdem freut sie sich über den wöchentlichen Besuch der hilfsbereiten Mitglieder des Nachbarschaftshilfevereins Geisenheim immer ganz besonders. "Ich wünsche mir noch jemanden, der ab und zu mal mit mir spazieren gehen würde", sagt Lottchen Grebert und bietet ihrerseits an, dafür "ja ein bisschen zu bügeln".

Nur ein paar Meter weiter in der nächsten Straße ist gerade Rudolf Steiner mit seinem Auto vorgefahren und klingelt im zweiten Stock eines Hauses. Hier wohnt Edith Janz-Marsh. Sie muss dringend zum wöchentlichen Termin beim Physiotherapeuten und Rudolf Steiner bringt sie dort hin. Das macht er jede Woche immer zum gleichen Zeitpunkt schon seit Monaten. Früher ist die nach einem Autounfall schwerstbehinderte ehemalige Lehrerin der Rheingauschule auch mal mit dem Taxi gefahren. Doch die Taxifahrer weigerten sich schon bald, ihr beim mühsamen Gang von ihrer Wohnung zum Rollstuhl und dann zum Fahrzeug zu helfen. Rudolf Steiner und Edith Janz-Marsh sind hier schon ein eingespieltes Team: In der Wohnung hilft er ihr noch beim Schuhe anziehen, ganz langsam und geduldig hilft er ihr dann die Treppe runter und baut schnell den Rollstuhl auf. Und auch vom Rollstuhl ins Auto hilft Rudolf Steiner seiner Mitfahrerin mit den richtigen Hilfestellungen, die wie selbstverständlich wirken. "Das mussten wir aber schon erst mal üben, bis alles so reibungslos geklappt hat", erinnert er sich. Gerade deshalb ist es für Edith Janz-Marsh besonders wichtig, dass immer Rudolf Steiner sie fährt. "Wir beide sind ein tolles Team", sagt sie, die sich selbst bei der Wohnungsberatung für behinderte Menschen ehrenamtlich engagiert.

"Wir sind auf dem richtigen Weg. Insbesondere dort, wo die Hilfe unter Nachbarn, aus vielfältigen Gründen, nicht mehr besteht und nicht mehr gelebt werden kann, sind wir angekommen", sagt die Geschäftsführerin des Nachbarschaftshilfe-Vereines Geisenheim, Helga Lukic, zu all diesen kleinen Alltagsgeschichten. "Mit zunehmendem Alter fallen alltägliche Dinge, die man früher spielend allein erledigen konnte, oft schwer. Umgekehrt gilt, dass Senioren noch vieles leisten können und auch gerne helfen möchten. Unser Verein eröffnet den Mitgliedern die Möglichkeit, aktiv zu bleiben und ihre Fähigkeiten sinnvoll einzusetzen. Zugleich sichert er die notwendige Hilfe und Unterstützung zu, die zur Alltagsbewältigung gebraucht werden", hält sie die Beweggründe für die noch unter Bürgermeister Manfred Federhen erfolgte Gründung dieses Vereines fest. Mehrheitlich werde der Verein von älteren Menschen getragen. Doch Ziel müsse bleiben, dass sich die Mitgliedschaft altersgemischt entwickelt und damit der Verein nachhaltig wirken kann.

Hier sind ebenfalls schon erste Schritte erfolgt, denn zahlreiche Schüler und Schülerinnen der Internatsschule Schloss Hansenberg in Johannisberg engagieren sich mittlerweile in dem Verein, gehen einmal in der Woche in das Marienheim und lesen den Senioren hier vor, gehen mit diesen spazieren oder spielen mit ihnen Gesellschaftsspiele. "Wenn Schüler sich dann ans Klavier setzen, freuen sich alle Bewohner. Auch bei Computerproblemen haben die jungen Leute vom Hansenberg immer ein offenes Ohr für uns", weiß Helga Lukic.

Positiv wirke sich aus, dass die Stadt Geisenheim dem Verein mit der Nutzung des Ehrenamtsbüros für den täglichen Bürodienst perfekte Rahmenbedingungen geschaffen hat. Zudem gibt es in der Verwaltung mit Ursula Nappert eine feste Ansprechpartnerin. "Gerade in der heutigen Zeit der leeren Kassen bedeutet die Arbeit der Nachbarschaftshilfe eine überaus wichtige Grundlage für die Stadt, die manche Angebote, Dienstleistungen und Aktivitäten nicht mehr aus eigener Finanzkraft erbringen kann, zumindest aber erheblich reduzieren muss. Selbst die katholische und evangelische Kirchengemeinde unterstützen unsere Arbeit. Wir dürfen die Pfarrsäle kostenlos nutzen", sagt Helga Lukic. Ansonsten erhalte man keine staatlichen Zuschüsse.

Am 14. April 2010 hat Bürgermeister Frank Kilian den Vorsitz des Nachbarschaftshilfevereins übernommen. Über 600 Mitglieder hat der Verein heute, wobei in den 6 Jahren seit der Gründung am 9. Februar 2009 schon 89 Mitglieder verstorben sind. Jährlich werden mindestens 1000 nachweisbare Einsätze in der Kernstadt, den Ortsteilen und den Nachbarorten durchgeführt. Dazu gehören in erster Linie ehrenamtliche Dienste von Senioren, die anderen Senioren helfen. Auch Schüler und Jugendliche erfahren Hilfe von den meist älteren Mitgliedern der Nachbarschaftshilfe. So werden mehrfach regelmäßig Einkäufe für Mitglieder getätigt, teilweise in Begleitung des hilfesuchenden Mitgliedes und wöchentlich oder vierzehntägig erfolgen Besuche bei Mitgliedern, die nicht mehr die Wohnung verlassen können. Begleitungen bei Spaziergängen gibt es oder auch mal männliche Hilfe beim Heraustragen von Sperrmüll auf die Straße. Selbst beim Abbau einer alten Küche wird geholfen oder nach dem Umzug beim Aufhängen von Bildern. Hilfe bei Problemen mit dem Computer erhalten die älteren Menschen meist von den Jüngeren. Einige ältere Mitglieder bitten auch immer wieder mal um Hilfe beim Ausfüllen von Vordrucken oder beim Aufsetzen von Schreiben an Behörden. Kleine Näharbeiten werden immer wieder mal ausgeführt und behinderte, alte oder kranke Mitglieder bekommen Fahrgelegenheiten zum Krankenhaus, zum Arzt und auch zum Friedhof. Sogar die Betreuung von Haustieren wurde schon organisiert oder Winterdienst bei einem erkrankten Mitglied an mehreren Tagen vorgenommen.

Im Aufbau ist eine Vernetzung mit der Hochschule Geisenheim. Eine Studentin und ein Student sind bereits Mitglied der Nachbarschaftshilfe geworden und übernahmen kleine Gartenarbeiten wie die Vorbereitung des Kleingartens am Haus für den Winter, die Reparatur eines kleinen Gartenzauns oder das Mähen einer kleinen Rasenfläche. All dies konnte der Verein schon organisieren und Helfer und Hilfesuchende zusammen bringen. Die Hilfestellungen reichten vom Gardinen abnehmen und nach dem Waschen wieder aufhängen bei alten oder finanziell schwach gestellten Mitgliedern über wöchentlich stattfindende Nachhilfestunden für Migrantenkinder und Sprachunterricht für Erwachsene. Diese Hilfe ist möglich, da sich vier pensionierte Lehrkräfte dem Verein zur Verfügung stellen.

Um das Interesse von jungen Familien an dem Nachbarschaftsverein zu erwecken, ist es dem Verein wichtig, auch Angebote für diese zu machen. So gibt es neben den Angeboten wie Nachhilfe und Hausaufgabenhilfe auch die Möglichkeit, dass Kuchen für den Kindergeburtstag gebacken wird, oder ein Kind einmal für kurze Zeit betreut wird. So fand die Betreuung eines kleinen Mädchens statt, das einige Wochen lang einen Nachmittag außerhalb der Familie bei einem Mitglied verbringen durfte und dadurch viel ruhiger wurde. Ein pensionierter Rektor aus Johannisberg kümmerte sich unter anderem ganz intensiv um zwei griechische Kinder, die vor einem Jahr nach Deutschland kamen und kein Wort deutsch sprachen. Zwei ehemalige Lehrerinnen, die sich in der Nachbarschaftshilfe engagieren, führen einmal die Woche nachmittags Hausaufgabenhilfe durch und lernen mit den Kindern Deutsch.

Dazu gibt es zahlreiche gesellige Angebote, angefangen vom Kreppelcafé, über das Frühlingsfest im Mai zum Muttertag, dem Sommerfest im August am Weinprobierstand, einer Benefizweinprobe im Jahr jeweils für einen guten Zweck, bis zur Adventsfeier. Kinovorführungen für ältere Menschen, Ausflüge mit dem Schiff und zum Zoo, zur Weinkellerei am Steinberg oder Kloster Eberbach, um nur Beispiele zu nennen, bis hin zu einem Nachmittag, in dem es mit zwei Hobbyköchen um gesundes Kochen geht. In Kürze soll es auch wieder ein Gedächtnistraining geben, das schon mehrfach mit großer Begeisterung von den Senioren angenommen wurde. In diesen Tagen hat der Verein für seine Mitglieder einen Lehrgang "Erste Hilfe für Senioren 50+" organisiert, in dem es auch um die aktuelle Situation des Rettungsdienstes und die notärztliche Versorgung im Rheingau gehen wird. Und damit immer noch nicht genug bietet der Nachbarschaftshilfeverein auch unter der Leitung einer kompetenten, verantwortungsbewussten Übungsleiterin und ihrer Vertretung Seniorengymnastik in zwei Gruppen an. Strickrunden und Spielkreise haben sich gegründet und mehrere Erzählcafès und die vielfältigen Treffen über das Jahr haben die Mitglieder einander näher gebracht, so dass sie inzwischen auch Freizeit außerhalb der vom Verein organisierten Veranstaltungen miteinander verbringen. Rund 20 Prozent der Mitglieder - es sind die jungen Alten - sind aktiv im Verein tätig und bringen ihre Erfahrung, ihre Talente, ihre Zeit für die nicht mehr so mobilen, ältere Mitglieder ein. Sie sind das Fundament, auf dem die Nachbarschaftshilfe funktioniert. "Und jeder kann selbst entscheiden, wie er helfen möchte", erklärt Helga Lukic.

"Um jedem Mitbürger, jeder Mitbürgerin, die Mitgliedschaft im Verein zu ermöglichen, wurde bewusst der Jahresbeitrag mit 12 Euro oder 15 Euro für Familien niedrig gehalten. Auch für Dienstleistungen selbst, die über die geschenkten 10 Punkte hinausgehen, ist nur ein geringer Betrag von 1 Euro pro Stunde festgesetzt worden", sagt die Geschäftsführerin. Ständig kommen neue Mitglieder hinzu: "Auch wenn sie im Moment noch keine Hilfe benötigen wollen sie doch die Sicherheit, einer Nachbarschaftsvereinigung anzugehören, in der sie im Notfall Hilfe erhalten. Viele werden aber auch Mitglied bei uns, weil sie den Verein für sinnvoll halten und unterstützen wollen."

Die Nachbarschaftshilfe ist täglich im Ehrenamtsbüro, Prälat-Werthmann-Straße 12, in der Zeit von 9.30 bis 11 Uhr persönlich oder telefonisch, Telefon 701175, erreichbar.

Ein Bericht von Sabine Fladung vom 05.09.2015.

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