Der Zug des Lebens steht niemals still
02.02.2019
Sankt Ursula-Schüler lieferten mit Inszenierung ihres neuen Stückes „Entgleist“ ein Meisterstück ab
„Was wäre passiert, wenn Sie an einer Stelle in Ihrem Leben eine andere Entscheidung getroffen und damit einen anderen Zug genommen hätten?” Sind wir für alles, was in unserem Leben passiert, selbst verantwortlich? Oder gibt es auch Situationen, an denen wir nichts hatten ändern können?“, diese Fragen setzten die Schüler an den Anfang ihres Programmes, denn diese Fragen stellen sich auch die Hauptfiguren des Stückes: Hans Schwarz (großartig dargestellt von Lars Weber mit ergrautem Haar als alter Hans und quirlig, jung und unschuldig von Phillip Spormann), Marie Stauber (einfach grandios von der überaus talentierten Laura Schlieker verkörpert, Hanna Scheller spielte die junge Marie) und Waris (ebenfalls mit ganz großer schauspielerische Leistung von Luana Moos gespielt). Diese drei Menschen treffen sich zufällig auf einer Zugfahrt und bemerken, dass alle einen Schicksalsschlag hinnehmen mussten, der ihr Leben maßgeblich geprägt hat. Hans Schwarz erlebt als 16jährigerJude hautnah die Folgen des Nationalsozialismus durch den Zusammenbruch seiner Freundschaft mit dem adeligen Konradin von Hohenfels (tiefgründig dargestellt von Tobias Vogt) und seiner Heimatliebe zu Deutschland, als er seine Eltern (Emely Thämlitz und Lukas Maul) verlassen muss und nach Amerika flüchtet. Auch Marie Steuber hat ein schlimmes Schicksal zu bewältigen: sie ist nicht nur als Kind auf sich allein gestellt, durch einen dummen Zufall gerät sie auch als junge Frau an böse Menschen, erlebt Prostitution und Unterdrückung der schlimmsten Art. Und die junge Frau Waris Dine soll laut somalischer Tradition an einen dreimal so alten Mann zwangsverheiratet werden, weil er dafür bezahlt hat. Bevor es jedoch dazu kommt, entscheidet sie sich, ihre Heimat und ihre Familie zu verlassen, gerät dabei aber in die Fänge eines Vergewaltigers und wird in ihrer Not sogar zur Mörderin.
„Egal, ob es sich um den Nationalsozialismus, das Ausnutzen von Naivität oder Zwangsheirat handelt, alles sorgt bei den Beteiligten für eine lebenslange Beeinträchtigung“, beschreiben die Schüler die emotionale Reise in die Vergangenheit, die mit all ihren Höhen und Tiefen die tiefsitzenden Gefühle erneut hervorholt. In dem ganz und gar selbst geschriebenen und selbst inszenierten Stück zeigen die Schüler drei vollkommen unterschiedliche Lebensgeschichten auf, die das tagtägliche Leiden vieler Menschen aller Gesellschaftsschichten widerspiegeln: „Jede dieser Personen durchlebt erneut das eigene Schicksal und öffnet sich den Anderen, in der Hoffnung auf Anerkennung, Wertschatzung und Verständnis. Sie erfahren die zwischenmenschlichen Werte und den Respekt, den sie bisher in ihrem Leben nur ihren Mitmenschen entgegengebracht, jedoch kaum selbst erhalten haben. Sie denken, dass sie selbst schon ihre ganze Geschichte kennen, doch der Zug des Lebens steht niemals still“.
Knapp ein Jahr hat es gedauert, bis der DSP-Kurs der Jahrgangsstufe Q3 der St. Ursula-Schule sein neues Stück „Entgleist“ das erste Mal vor Publikum spielte. „Bis dahin war es ein langer Weg, auf dem uns oft Steine in den Weg gelegt wurden und viele Hürden genommen werden mussten“, berichtet Charlotte Weidmann. Das wichtigste, der Vorstellungstermin 27. Januar, habe als erstes festgestanden: „Ein besonderer Tag: seit 1996 wird in Deutschland an diesem Datum der Opfer des Nationalsozialismus gedacht, und 2005 wurde er von der UNO sogar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust gemacht. Aufgrund der heutigen Geschichtsvergessenheit und teilweise auch der Leugnung historischer Ereignisse und ihrer schrecklichen Auswirkungen war uns allein dies schon Grund genug, an diesem Tag ein Zeichen zu setzen, zu erinnern, dass auch hier bei uns Mitbürger menschenunwürdig behandelt wurden und vielleicht auch noch werden“. Charlotte Weidmann erzählt aber auch, dass dieser Tag für die Sankt Ursula-Schule eine besondere Bedeutung habe: „Er ist gleichzeitig der Gedenktag der Hl. Angela Merici, der Ordensgründerin des Ursulinenordens, auf den unsere Schule zurückgeht“.
Nachdem der Wunsch dagewesen sei, diesen Tag besonders zu gestalten, ging es in die Planungsphase, wie man das anstellen wolle. Schnell seien sich die Schüler, neben 14 Schülern der Q3 waren ebenso viele der E-Phase und zwei Schüler aus der Q1-Phase beteiligt, schnell darüber einig, in ihrem neuen Stück auf die Zeit der Judenverfolgung einzugehen: „Ein Thema, welches unserer Lehrerin sowie auch uns sehr am Herzen liegt“. Wöchentlich habe es neue Büchervorschläge gegeben, die helfen sollten, in das Thema einzutauchen und die die Schüler inspirieren sollten, diese Erfahrungen und Erlebnisse künstlerisch darzustellen. „Besonders beeindruckt hat uns das Buch „Der wiedergefundene Freund“ von Fred Uhlman“, erzählt Charlotte Weidmann. Es handelt von der Freundschaft eines Juden und seines Klassenkameraden im Angesicht des Nationalsozialismus, die dadurch auf eine harte Probe gestellt wird. Was das Buch für jeden so eindringlich mache, sei, dass der Nationalsozialismus gar nicht primär im Fokus stand: „Vielmehr wurde einfach nur der Alltag dargestellt, wie wir ihn alle kennen, und dass die Annäherung der beiden Jungen so zart, emotional und berührend war. Dann zu „erleben“, wie so etwas Positives von einer irrationalen Ideologie zerstört wird, ist niederschmetternd“.
Zwei weitere Ereignisse seien dann aber zusätzlich in die Entwürfe des Stückes eingeflossen: „Zum einen erfuhren wir von einem Videowettbewerb, der sich um die Themen Demokratie und Toleranz drehte und zusätzlich im Falle eines Sieges ein nicht zu verachtendes Preisgeld versprach. Wir wollten mit unserem Stück an diesem Wettbewerb teilnehmen und erweiterten unsere Recherche noch mit dem Schwerpunkt auf Demokratie und Toleranz“. Das brachte die Schüler zur Frage der Frauenrechte und der Benachteiligung von Frauen: „Auch ein heutzutage heiß diskutiertes Thema“. Nach etlichen Runden „Brainstorming“ grenzten die Schüler ihre Quellenauswahl ein auf den berühmten Film „Wüstenblume“: der Film, der die Lebensgeschichte des Supermodells Waris aufzeigt und auf die Beschneidung von Frauen in Afrika aufmerksam macht. „Die systematische Unterdrückung von Frauen ist nämlich nicht nur in Afrika ein brandaktuelles Thema, sondern weltweit, auch wenn die Aspekte körperlicher Unterdrückung und Machtausübung glücklicherweise in unserer Gesellschaft nicht mehr so verbreitet und mittlerweile nicht mehr sozial akzeptiert sind“, so Charlotte Weidmann.
Die Schüler stießen bei ihren Nachforschungen auf das Buch „Die Zeit und das Zimmer“ von Botho Strauß und waren von dessen Berührung etlicher Bereiche des Lebens so angetan, die den Leser verwirrt und fragend zurücklassen, gleichzeitig aber auch deutlich machen, wie sehr Zufälle das Leben beeinflussen und auch dauerhaft in eine bestimmte Richtung lenken können, dass jetzt der Handlungsstrang mit dem Erzählen von Schicksalen auf verschiedenen Ebenen feststand. Lediglich die Frage, wie die doch unterschiedlichen Inhalte am besten kombiniert werden könnten, um ein stimmiges Endergebnis zu erhalten, stand noch im Raum. Man entscheidet sich für eine darstellerische Collage. „Das passte zum theoretischen Thema für dieses Schuljahr „postdramatisches Theater“, zu dessen Merkmalen auch Formen wie die Collage gehören. So konnten wir das im Unterricht Gelernte direkt in der Praxis anwenden, wodurch der sonst eher trockene Stoff gleich auch in der Arbeit ohne Schwierigkeiten wiedergegeben werden konnte“. Und doch sollte dies das einzige postdramatisches Stilmittel sein. „Wir zerbrachen uns die Köpfe, wie wir unser Stück in diese Richtung gestalten könnten. Da drei Schulstunden in der Woche natürlich nicht ausreichen, um ein ganzes Stück auf die Beine zu stellen, begannen wir recht früh, auch unsere Freizeit zu investieren. So waren wir beispielsweise an verschiedenen Nachmittagen oder in den Ferien auch ganztags bei Stefania Bienek zuhause eingeladen“, erläuterte Charlotte Weidmann. Es gab auch für konzentriertes, zielgerichtetes Arbeiten ein Probenwochenende in Maria Laach, „fernab aller Handynetze und geprägt von eifrigem Proben“.
Alle diese Mühen haben sich mehr als ausgezahlt, wie die Premiere am Samstagabend zeigte. Die Jugendlichen hatten nicht nur postdramatische Elemente wie Verfremdungseffekte, das chorisches Sprechen zu wichtigen Themen wie „Freundschaft“, „lebendige“ Kulissen, wie die in Packpapier gehüllten , tragbaren Kisten, die mal Zug, mal Klassenzimmer waren, eingebaut. Es gab auch eine Turnszene mitten im Zuschauersaal, einen Tanz zu dem legendären Lied „Ein guter Freund“ aus den 40er Jahren und ein beeindruckendes Klavierkonzert mit Niklas Nagel.
Großen Anteil hatten natürlich die so mühevoll erarbeiteten Inhalte. Nicht zuletzt berührte hier auch die Geschichte von Marie Stauber sehr, die Darstellerin Laura Schlieker auch nach berührenden Gesprächen mit der ehemaligen Oestricher Gemeindereferentin Anna Schubert gestaltete. Anna Schubert war als Kind und Erwachsene in schlimmster Form missbraucht worden. In einer erschütternden Veranstaltung hatte sie vor einigen Monaten der Öffentlichkeit davon berichtet und nach dem Artikel im Rheingau-Echo über dieses Lebensschicksal hatten Laura Schlieker und Stefania Bienek Kontakt zu Anna Schubert aufgenommen, um auch ihre Geschichte in das Stück einfließen zu lassen.
All das führte dann auch zu dem großartigen Erfolg, den die Schüler am Samstag bei der Premiere feiern durften. Und der große Tag steht ja noch bevor: zwar gab es zunächst einige Probleme rund um den so lange geplanten Aufführungstag am 27. Januar, da die schuleigene Aula besetzt war. Doch durch Kontakte zum Rheingau Musik Festival und der langjährigen Schulelternbeirätin Ute Herrmann gibt es nun die Möglichkeit, in der Oestrich-Winkeler RMF-Kelterhalle zu spielen. Dort kann man das Stück am kommenden Sonntag noch einmal sehen.
Ein Bericht von Sabine Fladung vom 02.02.2019.
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