Abseits der goutierten Pfade

12.09.2008

Wahrer Genuss braucht keinen Goldrand am Teller. Nein, wahrer Genuss kommt von gekonntem Handwerk. Manfred Lüer berichtet vom schmucken Weindorf "Auli", Qualitäts-Rafting im Weinberg und einer doppelten Staatsbürgerschaft am Rhein.

Entweder man hat es - oder man hat es nicht. Fred Strieth vom Weingut Thilo Strieth in Aulhausen jedenfalls hat es: "Er hat den Biss" , "the eye of the tiger". Er macht Qualitäts- Rafting im Weinberg. "Bei uns schmeckt der Höllenberg noch nach Höllenberg", sagt der 42-Jährige, "aber das ist ein Wein für Kenner. Denn das Speckig-Kräuterwürzige ist nicht jedermanns Sache!"

Ebenfalls nichts für Trendtrinker und die Light-Generation ist der Spätburgunder aus dem Rüdesheimer Schlossberg: präzise Materie, satter Stoff, mineralische Substanz und wie ein Mandelbäumchen. Erst wirkt der Rote unscheinbar, ja unnahbar, aber wenn er voll erblüht, platzt da plötzlich ein herrlicher Fruchtklecks von Brombeeren und Kirschen am Gaumen auf. Vorsicht, Überlänge! Dazu serviert der gelernte Koch Thilo Strieth, der Bruder des Winzers, so leckere Köstlichkeiten wie die Wildsülze aus eigener Schlachtung mit saftig-krossen Bratkartoffeln. Die erstaunlichen Früchte des Phyllitschiefers und des Quarzits: Hier in der originellen Schänke des Rotweinspezialisten funkeln und glänzen sie im Glas, und in welchem Weindorf sitzt man im Rheingau beim Rotwein legerer? "Wir arbeiten relativ unkonventionell", sagt Fred Strieth, "nicht nach starren Konzepten. Ich bin Verfechter des Traditionellen. Ich habe nur eine Pumpe und einen Filter. Feierabend. Keine Flotation, keine modernen Kellermaßnahmen. Alle Leute, die zu uns kommen, sind Freunde des Weines. Die normalen Touristen bleiben unten am Rhein. Uns besuchen Individualisten aus dem gesamten Rhein-Main-Raum, die nicht unbedingt glattgebügelte Weine erwarten. Wir haben hier nichts Aufgesetztes, nichts Künstliches, keine Glaspaläste. Aulhausen ist so, wie es früher im Rheingau war. Die Leute hier sind bodenständig, ehrlich, geradeaus." Und dann schenkt der Winzermeister ein. Etwa den 2004er Spätburgunder aus dem Frankenthal, wo bereits vor 500, 600 Jahren freie, also "franke" Männer Flächen roden durften. Lichtjahre entfernt vom marmeladigen Bubblegum- Kitsch, und das für nur sechs Euro: Dieser Wein springt energiegeladen förmlich auf den Esstisch! Wer das Abheben beim sensationellen Spätburgunder Weißherbst "Blanc de Noir" mit seinen handfesten Burgunderaromen und 13 Prozent nicht schafft, übernachtet am besten im vis--vis gelegenen Hotel "Germania". Unser Ausflug nach Aulhausen hat sich jedenfalls gelohnt. Im Weingarten von Fred Strieth haben wir Heiterkeit gebucht und leben sie! Hier oben gibt die Mischung zwischen Taunus, Rheintal und Weingegend ein frisches Gefühl. Der Weiler mit Spitznamen "Auli" duckt sich oberhalb von Rüdesheim und Assmannshausen in eine breite Talmulde und hat es in sich: Rheingau für echte Connaisseurs. 1200 Einwohner und zwei Winzer von echtem Schrot und Korn. Die Familie Schön betreibt seit 1868 Weinbau in Aulhausen, und der Gutsausschank "Zum Schöne Michel" gilt als veritabler Geheimtipp. Die Gäste werden belohnt mit dem Genuss von blitzsauberen Rieslingweinen und gehaltvollen, tiefroten Spätburgunder-Rotweinen. Die Speisenkarte bietet Gutbürgerliches, aber auch Ausgefallenes wie das "angebratene Rindermett". Zum Glück vertraut Klaus Schön beim Ausbau seiner Weine eher auf seine Intuition als auf Lehrbücher und Laborwerte. So hat er seinen unverwechselbaren Weinstil gefunden. Sein Reich ist der Rüdesheimer Berg, und die Roten aus 80 Prozent Steillagen sind erstaunlich nuanciert: mal dicht, kompakt, druckvoll wie aus dem Schlossberg, dann wieder zart, dezent, hintersinnig wie aus dem Roseneck. Die Rotweinkarte des erfahrenen Wingertmanns sucht ihresgleichen im Rheingau.

Genauso unverwechselbar, ja spektakulär ist hier im Mittelrheintal der Deutsche Grand Canyon! Über 22 Kilometer wandern wir in einer tollen Tagestour von Aulhausen über die Paul-Claus-Hütte, Bodental, Steinberg, Bachergrund, Lorch, Ruine Nollig und Lorchhausen bis nach Kaub. Dann genießen wir einfach nur richtig gute Küche ohne Goldrand am Teller und ohne Etepetete-Attitüde. Im Hotel "Deutsches Haus" mit seinen modernen, großzügigen Zimmern zelebriert Küchenchef Willi Kirdorf, der bei Starkoch Eckart Witzigmannlernte, im Restaurant gekonntes Handwerk, und sein Bruder Edgar Kirdorf bietet dazu 200 günstig kalkulierte Weine: darunter Weine der Selektion Freistaat Flaschenhals.

Was sich heute wie ein launiger Scherz der Geschichte anhören mag, war nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ein Kleinstaat, der von 1919 bis 1923 existierte. Mit dem Freistaatpass erwirbt man quasi die doppelte Staatsbürgerschaft und wird mit einem kulinarischen Viergängemenü inklusive Weine und Digestif in verschiedenen Restaurants und Weinstuben belohnt. Uns schmeckt der zart-mürbe und aromatische Sauerbraten vom Weidebullen mit samtig- hausgemachten Kartoffelklößen und feinsäuerlichem Apfelkompott im Deutschen Haus jedenfalls ganz wunderbar! Dies ist auch der aktuelle Hauptgang in einem speziellen "Freistaat-Flaschenhals-Menü".

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