Gegen das Vergessen
23.03.2016
Zwei weitere Stolpersteine verlegt
Künstler Gunter Demnig kam zum dritten Mal, um seine Mahnmale für jüdische Opfer im Nationalsozialismus zu verlegen
Oestrich-Winkel. (sf) Zwei weitere Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus wurden am vergangenen Montag von dem deutschen Aktionskünstler Gunter Deming in Oestrich unter der Beteiligung zahlreicher Bürger verlegt. Der Künstler, der Hut und Weste trägt wie einst Joseph Beuys hat mittlerweile europaweit 43.000 "Stolpersteine" verlegt. Diese Steinwürfel mit blankpolierten Messingplaketten sollen an Opfer des Holocaust erinnern und liegen nicht nur in den Straßenpflastern vieler deutscher, sondern auch europäischer Städte: "Ich war gerade in Rumänien, zuvor in Norwegen und auch schon in Rom", erzählte er.
Gunter Demnig ist der Erfinder des Erinnerungsprojektes "Stolpersteine". Der 1947 in Berlin geborene Künstler studierte Kunstpädagogik an der Hochschule für bildende Künste in Berlin. 1971 ging er an die Kunstakademie in Kassel und nach seinem Staatsexamen 1974 studiert er in Kassel in der Klasse des Lingener Documenta-Künstlers Harry Kramer. Im "Atelier Kramer", so Kramers eigene Bezeichnung für seine Klasse, übte Demnig künstlerische Projektarbeit ein. Seit Anfang der Achtzigerjahre macht er mit Rauminstallationen und Performances auf sich aufmerksam. 1985 etabliert Demnig sein Atelier in Köln, 1996 startet er das Projekt "Stolpersteine", das er heute als einziges künstlerisches Projekt betreibt. 2006 folgten die ersten Steinverlegungen im Ausland. Für seine Arbeit erhielt Gunter Demnig zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2005 das Bundesverdienstkreuz.
"Die Idee der Stolperstein-Aktion stammt von 1993. Ein Jahr später habe ich die ersten 200 Steine gemacht, ohne an eine Verlegung zu denken. Die Steine sind in der Kölner Antoniter-Kirche ausgestellt worden. Dazu gab es Fotos der Häuser. Später gab es aber die ersten Probleme. Die tatsächliche Verlegung kam nicht voran. Bei dem Projekt wurden mir so viele Stolpersteine in den Weg gelegt, dass ich das Projekt erst einmal an die Seite gestellt habe" erzählt der Künstler. Den ersten Stolperstein verlegte er dann zur Probe in seiner Heimatstadt Köln, "um dem Tiefbauamt zu zeigen, dass es mit diesen Steinen im Alltag keine Probleme gibt. Niemand stolpert, rutscht oder fällt hin". Aber die erste richtige Verlegung kam dann tatsächlich erst 1996 in Berlin-Kreuzberg zustande, erinnert er sich. Damals habe die neue Gesellschaft für zeitgenössische Kunst eine Ausstellung zum Thema "Künstler forschen nach Auschwitz" veranstaltet und Demnig hatte das Konzept der Stolpersteine: "Da habe ich 51 Steine für Kreuzberger Juden gemacht. Für eine Genehmigung war einfach keine Zeit mehr. Da habe ich halt illegal verlegt. Ich stellte meinen Wagen ins Halteverbot, habe zwei Pylone hingestellt und angefangen zu arbeiten". Erst drei Monate später sei das Ganze dem Tiefbauamt aufgefallen.
Bürgermeister Michael Heil, Stadtverordnetenvorsteherin Gerda Müller, der 1. Stadtrat Werner Fladung und viele weitere Kommunalpolitiker freuten sich sehr, dass der Künstler noch einmal persönlich nach Oestrich-Winkel gekommen war, um die weiteren Stolpersteine zu verlegen. Schon war aber auch aber auch die Beteiligung einige Oestrich-Winkeler Bürger, die zu der Stolpersteinverlegung gekommen waren. Bürgermeister Heil erläuterte, das man die einzelnen Stolpersteine im Stadtgebiet jetzt auch über eine interaktive Karte auf der Homepage der Stadt Oewtrich-Winkel finden könne. Außerdem sprach er auch die ursprünglich geplante Verlegung eines Stolpersteines an Schloß Vollrads zum Gedenken an Clara Gräfin Matschuka Greiffenclau an, die von Seiten Schloß Vollrads nicht gewünscht werde. "Wir werden hier intensive Gespräche mit Dr. Rowald Hepp von Schloß Vollrads führen, um gemeinsam die Frage über eine Verlegung abschließend zu klären", erläuterte er.
Jüdische Schicksale
Die Gäste gingen bei beiden Stationen mit und tauchten tief in die Historie ein: Verdeutlicht wurden die schweren Schicksale der Opfer, für die die Gedenksteine gelegt wurden, dank der Ausführungen des Heimathistorikers Walter Hell und der Stadtverordnetenvorsteherin Gerda Müller. Sie stellten die Opfer und jüdischen Schicksale vor und stimmten mit ihren Ausführungen alle zum Nachdenken an. Die erste Station war an der Kranenstraße 21 - hier stand einst eine Synagoge: "Im Hinterhaus gab es einen Betraum, der als Synagoge der jüdischen Gemeinde in Oestrich von 1933 bis 1938 diente und 1956 niedergelegt wurde", erläuterte der Historiker. Zuvor habe es in Hallgartener Straße 6 einen Betraum von 1929 bis 1933 und davor eine Synagoge der jüdischen Gemeinde in Bornstraße 1 von 1840 bis Dezember 1928 geben und die wegen Baufälligkeit abgerissen wurde. "Vorsteher des Gebetskreises, der sich bis 1938 in der Kranenstraße 21 traf, war Eduard Rosenthal", so Heil. Er habe noch miterlebt, wie in der Progromnacht die Kultgegenstände des Gebetskreises, darunter die Thora, auf die Straße geworfen wurden und zum Teil verbrannt wurden. Ein Teil der Thora sei allerdings wohl gerettet worden und später dank Dr. Josef Staab restauriert worden. Ein Neffe von Eduard Rosenthal habe diese durch ein Antiquariat wieder gefunden. "Es gab einen regelrechten Progrom-Tourismus am 9. November 1938. Man begann in Eltville mit den Verwüstungen und Brandschatzungen der Häuser und Beträume jüdischer Mitbürger und zog dann durch den ganzen Rheingau. Die Stelle in der Kranenstraße sei ein besonderer Ort, erzählte Walter Hell, denn hier war damals in der Progromnacht, in der Oestricher Bürger die jüdische Bevölkerung ihres Ortes beraubt und geschlagen hatte, ein jüdischer Mitbürger aus dem Fenster geworfen worden. "Und das waren wahrlich keine Fremde, sondern die Nachbarn und Vereinskollegen, die mit den jüdischen Mitbürger zusammen gelebt hatte", erläuterte Heil die schrecklichen Ereignisse, die nie in Vergessenheit geraten sollten.
In der Rheingaustraße 44 wurde dann ein Stolperstein für Alice Brehm verlegt und hier überbrachte die Stadtverordnetenvorsteherin Gerda Müller die Grüße von Walter Brehm, dem 98jährige Sohn von Alice Brehm: "Er bedankt sich bei allen, die es ermöglicht haben, dass hier zum Gedenken an seine Mutter ein Stein verlegt wird. Er beabsichtigt, im Sommer nach Oestrich zu kommen". Die Familie Brehm stammt aus Mannheim. Walter Brehms Vater war Jurist und nebenamtlicher Professor an der Handelshochschule: "Er war ein treuer Diener des Staates und er war u. a. Beigeordneter der Stadt Mannheim. Die Mutter, Alice Brehm, hatte 1909 das Abitur abgelegt. Walter Brehms Eltern wurden evangelisch getraut und es war eine sehr bürgerliche Familie. Der Vater starb 1937. Walter Brehm hat noch einen Bruder, Hans-Hermann. Er konnte 1938 in die Schweiz emigrieren". Doch Walter Brehm hatte nicht aus Deutschland fliehen können, er kam zum Arbeitsdienst und 1940 zum Militär. "Als "Mischling" wurde er aber ganz schnell aus der Truppe entfernt. Seine Großmutter, Emmy Stern, wurde am 21. August 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Einen Monat später ist sie tot", so Gerda Müller. Walter Brehm habe ihr erzählt, das er als "Mischling" völlig entrechtet und deklassiert wurde: "Er landet in Oestrich und schlug sich hier als Hilfswerker durch. Bei einem Bombenangriff in Mannheim wurde Alice Brehm obdachlos. Sie durfte zu ihrem Sohn nach Oestrich, der dort in einem winzigen Zimmer wohnte. Am Dienstag nach Ostern 1944 wird Alice Brehm von zwei Polizisten verhaftet und abgeführt. Walter Brehm darf seine Mutter zum Bahnhof begleiten, sie verabschieden sich und ahnen, dass sie sich nicht mehr wieder sehen werden, denn Alice Brehm wird in Ausschwitz ermordet". Walter Brehm habe sich im Gespräch erinnert, wie er nach der Verhaftung seiner Mutter nach Wiesbaden zum Gestapo-Mann Bodewisch gefahren war und fragte, warum seine Mutter verhaftet wurde: "Bodewisch nannte als Grund, dass auf den Lebensmittelkarten nur Alice Brehm gestanden habe und nicht Alice "Sara" Brehm". Walter Brehm sei dann in ein "Mischlingslager" in Niederlausitz gekommen. "An Ostern 1945 konnte er fliehen und kam wieder nach Mannheim", erzählte Gerda Müller, die auch für den Spendensammelverein sprach, die die Verlegung der zwei neuen Steine finanziell ermöglich hatte.
Bei den Stolpersteinen gehe es um eine soziale Skulptur, auch im Sinn von Joseph Beuys. "Hinter jedem einzelnen Stein steht ein Schicksal, eine Lebensgeschichte, die sehr bewegend ist. Gerade auch für junge Menschen und Schüler soll hier eine abstrakte Zahl von über 6 Millionen ermordeten Menschen im Nazi-Regime greifbar gemacht werden. Ich habe sehr oft erlebt, wie bewegt die Schüler sind, wenn sie sich durch die Stolperstein-Aktion in der eigenen Straße oder vor dem eigenen Haus mit der Historie der einzelnen Opfer auseinander setzen und wie anders sie plötzlich Geschichte begreifen", so der Künstler. "Die gehen dann anders nach Hause", das können Sie glauben", so Gunter Demnig. Über die Steine würden viele Leute überhaupt zum ersten Mal ins Gespräch kommen. Das Echo des Projektes gehe bis nach Südamerika und Asien. Bei den Verlegungen hätten sich zum Teil Familienteile getroffen, die voneinander nichts wussten. "In Aachen habe ich ein ganzes Familientreffen bei einer Verlegung erlebt. Die Leute wohnten alle in Israel, haben sich aber erst bei der Verlegung in Deutschland richtig kennengelernt", erzählt er.
Er dankte dem Stadtparlament der Stadt Oestrich-Winkel und die Sponsoren für die Initiative, die Stolpersteine hier zu verlegen. Es sei die 880. Kommune, in der seine Steine gegen das Vergessen verlegt würden. Alleine könne er die Recherche für die einzelnen Steine niemals leisten. "Es ist eine Initiative der Bürger , auch das Geld kommt ja auch von ihnen, über Patenschaften", so Demnig. Aber auch mit Gegenstimmen hätten die Initiatoren und auch der Künstler selbst immer wieder zu kämpfen. So waren zum Beispiel in Greifswald alle verlegten Steine von Unbekannten wieder entfernt worden: "Da haben Leute geschrieben, Greifswald sei jetzt "stolperstein-frei". Das waren insgesamt elf Steine. Doch die Stadt hat sie wieder neu verlegt. Insgesamt sei im Lauf der Jahre 800 Steine angegriffen worden mit Farbe, mit Teer, mit Silikon. "Für all das gibt es aber Lösungsmittel und ungefähr 100 Steine sind herausgerissen worden. Ich selbst habe drei Mal eine Morddrohung erhalten", erzählte der Künstler, der in den Stolpersteinen sein Lebenswerk sieht: "Da kommt so viel Positives zurück. Welcher Künstler erlebt das. Ich lerne tolle Menschen kennen. Das ist ungemein bereichernd."
"Man stolpert mit dem Herzen und dem Kopf", das habe ein Hauptschüler einmal gesagt bei seiner Aktion der Stolpersteine und das habe ihn tief beeindruckt, sagte der Aktionskünstler Gunter Demnig abschließend.
Ein Bericht von Sabine Fladung vom 23.03.2016.
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