Menschliche Skelette gefunden

01.06.2016

25 "Körpergräber" aus der Merowingerzeit freigelegt

Ausgrabung im merowingerzeitlichen Gräberfeld in der Fläche Brentanostraße/Beinweg soll noch bis Ende Juni andauern

Geisenheim. (sf) Ganz vorsichtig streift die Archäologin immer wieder mit einem Pinsel über die Rippen des menschlichen Skelettes, das vor ihr liegt. Dann nimmt sie ein Maßband und messt die Länge des Körpers: "1,70 m, das ist wirklich sehr groß", teilt sie ihrem Kollegen mit, der dies aufschreibt. Was wie eine Szene aus einem Kriminalfilm anmutet ist in Geisenheim zur Zeit tägliche Routine: 25 "Körpergräber" aus der Merowingerzeit haben die Mitarbeiter vom "MS-Terraconsult" hier im Auftrag der archäologischen und paläontologischen Denkmalpflege des Landes Hessen, Hessen Archäologie auf dem Baugelände gegenüber des Rathauses freigelegt. Seit Januar 2016 findet unter der wissenschaftlichen Leitung des zuständigen Bezirksarchäologen der Hessen Archäologie Thomas Becker, seit Februar unter Dr. Kai Mückenberger, im Vorfeld von Baumaßnahmen gegenüber des Geisenheimer Rathauses eine archäologische Untersuchung statt. Bis zu zehn Mitarbeiter sind hier täglich beschäftigt, denn bis Ende Juni sollen die Grabungen in dem 700 Quadratmeter großen Baugelände abgeschlossen.
"Es handelt sich um eine Fundstelle in deren Areal bereits bei früheren Bauarbeiten nördlich der heutigen Grabungsfläche Gräber entdeckt worden waren und daher der Verdacht nahe lag, dass noch weitere Gräber vorhanden sein könnten", erklärt auch Archäologe Dr. Dominik Meyer von MS-Terraconsult. Bislang wurden 25 Bestattungen angetroffen, die mehrheitlich dem 6. und 7. Jahrhundert nach Christus angehören: "Die Bestattungen werden zum Teil im Block geborgen und später in der archäologischen Restaurierungswerkstatt der Hessen Archäologie in Wiesbaden von den Restauratoren unter wissenschaftlichen Laborbedingungen freigelegt. Anschließend erfolgt die Überführung der Funde zur weiteren Bearbeitung und Aufbewahrung in das zentrale Funddepot der Hessen Archäologie".

Wie viele Gräber einst zu dem Bestattungsplatz gehörten, sei schwer zu sagen und wird von den Archäologen am Beispiel des nahegelegenen Gräberfeldes in Eltville verdeutlicht: "Die 2006 erschienene Publikation von M. Blaich umfasste noch 646 bekannte Bestattungen, die sich auf rund 550 Quadratmeter verteilten. Diese Zahlen müssen nach den aktuellen Grabungen 2015/16 bereits jetzt schon wieder deutlich nach oben korrigiert werden. Das zeitgleiche Gräberfeld in Geisenheim könnte demnach ähnlich groß gewesen sein".
Im Rahmen einer Pressekonferenz am Dienstagmorgen stellte Bezirksarchäologe Dr. K. Mückenberger die Grabungsergebnisse vor und betonte die überregionale Bedeutung der Ausgrabung: "Da sich uns die Merowingerzeit, also das frühe 5. Jahrhundert bis Mitte 8. Jahrhundert nach Christus, als Epoche vor allem über Gräber erschließt - über die dazugehörigen Siedlungen wissen wir relativ wenig - ist es umso bedauerlicher, wenn Gräber bei Baumaßnahmen zerstört werden, weil sie einfach übersehen werden. Insofern kann man die Ausgrabung im Geisenheimer Gräberfeld nicht nur als gesetzlich vorgeschriebene Maßnahme betrachten, sondern auch als eine gelungene Rettungsaktion der Stadt Geisenheim und der Hessen Archäologie hervorheben, die die Geschichte des Ortes Geisenheim im Speziellen und die Epoche der späten Völkerwanderungszeit für die Landesgeschichte im Allgemeinen bereichert".

Dabei würden sich vor allem an den unterschiedlichen Grabriten zahlreiche Informationen zu den sich wandelnden Glaubensvorstellungen der Menschen im frühen Mittelalter ablesen lassen. "Während einige frühere Gräber durchaus noch Beigaben führend sind, tauchen auch immer wieder Gräber ohne Beigaben auf. Diese Tatsache ist sicherlich genauso vor dem Hintergrund eines erstarkenden Christentums zu sehen, wie der Umstand, dass bei einigen Gräbern auch immer wieder zeitgenössischer Grabraub festgestellt werden kann.", so Dr. Mückenberger
Die Toten seien in West-Ost-Richtung "mit Blick zur Sonne" bestattet worden, erläutert Mückenberger. Reichere Familien hätten sich auch Gräber mit einer Holzverkleidung leisten können. In Geisenheim seien aber bisher nur die Überreste von Holzplatten gefunden worden, auf denen einige der Verstorbenen wohl begraben wurden. Außerdem wurden auch die Überreste eines Schweines und eines Huhns gefunden, das seien wohl Grabbeigaben "für die Speisung im Jenseits" gewesen. Auch Ofenkacheln, einen gut erhaltenen großen Krug, Scherben weitere Krüge, Keramik- und Glasschmuck sowie Gegenstände aus dem Alltagsleben, Tonperlen und sogar ein versteinerter Schlüssel, vermutlich aber alles aus der Neuzeit nach dem Mittelalter, wurden gefunden. Alle Funde, die Skelette und Grabbeigaben werden in der Restaurierungswerkstatt der Hessen Archäologie in Wiesbaden weiter untersucht und dann im zentralen Funddepot gelagert. Das "Schatzregal" macht sie zum Eigentum des Landes Hessen.
Rund zwei brauchen die Mitarbeiter der Hattersheimer Ausgrabungsfirma MS-Terraconsul, um eines der Skelette freizulegen. Dabei tasten sie sich Holzspatel und Pinsel tasten immer vorsichtig an den Knochen entlang und leisten dabei immer auf Knien arbeitend einen wirklichen "Knochenjob". 25 Gräber haben sie so im Auftrag der Hessen Archäologie seit Mitte Januar mit wetterbedingten Unterbrechungen in dem ehemaligen Schmittschen Garten gegenüber dem hinteren Eingang des Rathaus ausgegraben. Eigentlich hatte hinter der denkmalgeschützten Mauer an der Brentanostraße, die Firma Centra zwei Mehrfamilienhäuser mit jeweils sechs seniorengerechten Wohnungen und einer Tiefgarage errichten wollen. Stattdessen wurden jetzt hier die 25 "Körpergräber" aus der Merowingerzeit freigelegt. In 30 Jahren seien auf keiner Baustelle bisher archäologische Grabungen erforderlich gewesen. Jetzt hat es die Centra gleich zweimal getroffen, denn auch in Eltville wurden merowingische Gräber entdeckt und hier sogar 150 Gräber.
Die Grabfunde in Geisenheim seien aber auch zu erwarten gewesen: "Das legten auch schon die Begräbnisstätten nahe, die in den 1950er Jahren beim Bau der Häuser nördlich der Brentanostraße entdeckt wurden", erklärten die Archäologen und wiesen auf die Veröffentlichung des Geisenheimer Historikers Manfred Laufs hin. Er geht darin davon aus, dass die ersten Siedler in Geisenheim das Grabfeld direkt in der Nähe ihrer Häuser angelegt haben. Der Friedhof soll sich von der Brentano- und Beinstraße bis zur Rüdesheimer Straße erstreckt haben. Auch die Archäologen schließen nicht aus, dass das Gräberfeld so groß sein könnte wie an der Erbacher Straße in Eltville, wo der Archäologe Markus Blaich 646 Bestattungen dokumentiert hatte.
Für die Centra bedeutet das mehr als 100 000 Euro Mehrkosten, das das Bau-Unternehmen in Hessen die Kosten selbst tragen muss. In Eltville seien es sogar rund 400 000 Euro Grabungskosten, erläutert der Geschäftsführer der Centra, Frank Kreuzberger. Trotzdem sei der Aufwand im Verhältnis zu den Gesamtkosten für die Bauprojekte noch tragbar. Dr. Mückenberger erklärte, das man versuche, die Balance zwischen gründlicher Dokumentation und möglichst geringer Verzögerung für den Bauherrn zu halten.
Bürgermeister Frank Kilian und Stadtarchivar Oliver Mathias, die bei der Begehung am vergangenen Dienstag auch vor Ort waren und sehr interessiert waren an der Ausführungen der Archäologen, nahmen erste Gespräche auf, die Ausgraben zu nutzen, um die Stadtgeschichte für jedermann zugänglich" zu machen. "Wir planen, vielleicht im Garten des benachbarten Bachelin-Hauses ein gläsernes Grab mit Skeletten-Fund auszustellen und dazu natürlich die passenden Informationen auf erläuterten Schautafeln zu geben", hieß es vor Ort.

Ein Bericht von Sabine Fladung vom 01.06.2016.

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